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Kalkulierter Kontrollverlust: Naturwein - eine wiederentdeckte Tradition

Leidenschaftliche Winzer haben den Naturwein (wieder-)entdeckt - ein Rebsaft, der ganz ohne Chemie auskommt und lange Zeit in Vergessenheit geraten war.

Weingut
Weingut (Symbolbild) Foto: iStock / A-Tom
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Der Ursprung dieses Weins ist in einer alten Tradition verankert. So sollen unsere Vorfahren bereits vor 8.000 Jahren im heutigen Georgien Naturweine gekeltert haben.

Inzwischen beziehen sich die Winzer auf Jules Chauvet (1907 - 1989), einen Weinbauexperten. Er fand einen Weg, Weine mit einem Minimum an Eingriffen herzustellen. Seine Methode "Low Intervention" gilt als Startschuss der heutigen Naturwein-Produktion.

Ulrich Leitner und Judith Beck
Ulrich Leitner und Judith Beck Foto: Judith Beck

Mit Charakter

Die Naturweine von Judith Beck und Ulrich Leitner sind fast schon rebellisch. Das Paar stellt im Burgenland rund 100.000 Flaschen Wein pro Jahr her. Das Sortiment reicht von Naturweinen bis zu preisgekrönten Rot- und Weißweinen. Ihre Empfehlung: der Pét Nat 'P' Bambule! 2020. vinocentral.de

Wie unterscheidet er sich vom herkömmlichen Wein?

"Wer zum ersten Mal einen Naturwein probiert, ist wahrscheinlich irritiert. Schon auf den ersten Blick sieht er anders aus als ein typischer Wein: Er erinnert eher an Kombucha oder ein Weizenbier, trüb in der Farbe, mit einer deutlichen Hefenote. Für Freunde des klassischen Weins ist Naturwein eine Art sehr teurer Sauerkrautsaft. Liebhaber dagegen schwärmen von geheimnisvollen Hefen und Bakterien."

Was machen die Winzer bei einem Naturwein anders?

"Bei der konventionellen Herstellung kommen oft Zuchthefen, Säure, Zucker und Tannin zum Einsatz, um für gleichbleibende Aromen zu sorgen und Jahrgangsunterschiede auszugleichen. Für die Klärung, also das Herausfiltern, bewirtschaften die Winzer ihre Weinberge ausschließlich nachhaltig, bio-zertifiziert oder bio-dynamisch. Chemische Düngemittel sind verpönt. Manche verzichten sogar ganz auf Maschinen, pflügen mit Pferden, bespritzen ihre Reben mit Kräutertee und lockern ihre Erde über Jahre mit fermentiertem Kompost und Grünpflanzen.

Bei der Herstellung werden natürliche Hefen verwendet, die in der Umwelt vorkommen. Dann setzt die sogenannte Spontangärung ein. Während der Weinherstellung greifen die Winzer nicht mehr ein - das Ergebnis bleibt dem natürlichen Vorgang überlassen. Allerdings mit dem Risiko, dass am Ende etwas Ungenießbares dabei herauskommen kann."

So schmeckt's

Naturweine erinnern an Erde, Kräuter, Fermentiertes. Allgemein kann man sagen, dass sie weniger fruchtig daherkommen und ihr Aromaprofil mehr von Hefe geprägt ist als bei einem konventionellen Wein.

Und wie schmeckt er denn?

"Sehr unterschiedlich! Naturweine erinnern an Erde, Kräuter, Fermentiertes. Allgemein kann man sagen, dass sie weniger fruchtig daherkommen und ihr Aromaprofil mehr von Hefe geprägt ist als bei einem konventionellen Wein. Auch haben sie nicht selten eine nach Joghurt riechende Prägung. Die Vielfalt ist groß und jeder Tropfen ein kleines Geschmacksabenteuer. Naturweine haben vor allem in den hippen Bars und Restaurants von New York bis Kopenhagen eine eingeschworene Fangemeinde. Sie zelebriert den 'acquired taste', einen Geschmack, der erst einmal erlernt werden muss und nichts für die breite Masse ist."

Ist Naturwein gesünder?

"Davon ist auszugehen. Er ist frei von Konservierungs- und Zusatzstoffen und hat weniger Zucker als herkömmlicher Wein. Aber natürlich enthält auch Naturwein Alkohol."

Was unterscheidet ihn von anderen Bio-Weinen?

"Es gibt biologisch angebauten Wein, der dann aber konventionell ausgebaut wird: mit Zuchthefen, gefiltert und mit allerlei Zusatzstoffen versehen. Das ist Bio-Wein, aber noch kein Naturwein. Hier herrscht die reine Lehre. Das bedeutet: keine Zusätze und vor allem keine Zuchthefen. Den Winzern geht es darum, den charakteristischen Geschmack ­einer Rebsorte und eines Jahrgangs hervorzuheben. Deshalb überlassen sie den Gärungsprozess den natürlichen Hefen, ohne einzugreifen. Einige verzichten bei Naturweinen sogar auf den Zusatz von Sulfit. Das macht ihn dann allerdings weniger haltbar. Sofern keine Sulfite hinzugegeben wurden, sollte man ihn nach dem Kauf innerhalb eines Jahres verbrauchen."

Natürliche Hefen finden sich überall

Je mehr Tiere im Weinberg sind, desto mehr unterschiedliche Hefen gibt es. Vor allem Insekten übertragen die Hefen durchs Rumkrabbeln.

Welche Sorten werden angebaut?

"Rot, Rosé, Weiß. Silvaner, Riesling, Zweigelt ... Also alle Reben, die wir kennen. Angebaut wird Naturwein übrigens da, wo auch konventionelle Trauben wachsen: in den Weinregionen Deutschlands, Österreichs, Spaniens, Frankreichs und Italiens. Oft wird sogenannter Orange Wine dazugezählt, allerdings wird nicht jeder Orange Wine automatisch nach den Richtlinien der Naturwinzer hergestellt. Eine Besonderheit sind sogenannte Pétillants Naturels, kurz Pét-Nats, Schaumweine, die wie beim Champagner in der Flasche weitergären."

Was sagen eigentlich Sommeliers dazu?

"Entweder lieben sie Naturwein oder sie lehnen ihn ab. Kritiker beschreiben den Geschmack auch gern einmal als 'Kaninchenstall' oder tun die Winzer als Hipster-Spinner mit Herz für 'frei laufende Trauben' ab. Es gibt aber auch in Deutschland mehr und mehr Gastronomen, die auf die Tropfen schwören und wissen: Mit kalkuliertem Kontrollverlust einen guten Wein herauszubringen, braucht sehr viel Erfahrung und Feingefühl."

Und wo kann ich ihn probieren?

"In den Bars von Tokio, Paris und London wird schon fleißig Pét-Nat getrunken. Wer nach New York reist, sollte einmal die Naturweinbar Wildair besuchen, eine der angesagtesten Adressen der Stadt. In Berlin bietet das Restaurant Nobelhart & Schmutzig eine gute Auswahl, in Hamburg das Haebel. Und Sternekoch Konstantin Filippou hat in seiner Wiener Weinbar O boufés ebenfalls eine erlesene Auswahl auf der Karte. Wer zu Hause verkosten möchte: Eine große Vielfalt gibt es beispielsweise über den Onlineshop 8greenbottles.de. Und ganz wichtig: Sei offen und probier mehrere Naturtropfen."

Judith Beck
Judith Beck Foto: Judith Beck

Lust auf Experimente

"Bambule!" heißt die Naturwein-Reihe des Winzerpaars. "Für uns steht der Name dafür, dass wir ganz frei sind und vieles ausprobieren können." weingut-beck.at

Grüne Tropfen

Abgesehen vom Trend Naturwein gibt es noch andere Möglichkeiten, Wein klimafreundlicher herzustellen. Eine kleine Prise Wissen für den nächsten Einkauf.

Welcher Wein ist denn die klimafreundlichste Variante?

Das wäre ein regionaler Wein aus biologisch angebauten Trauben in einer Mehrweg-Glasflasche. Denn Glas ist leider immer noch die Verpackung, die den höchsten Energiebedarf hat - trotz seiner guten Recycling-Eigenschaften. In der Mehrwegvariante würde sich der CO2-Fußabdruck für eine Flasche Wein um rund ein Drittel reduzieren. Die Weinheimat Württemberg ist übrigens Vorreiter in puncto Mehrweg: Deren Winzer bieten in der Region schon lange Ein-Liter-Pfandflaschen an. Bleibt abzuwarten, ob sich bundesweit nicht auch noch andere Weinanbaugebiete anschließen wollen ...

Die neuen Weinsiegel

In den letzten Jahren sind weltweit verschiedene Programme für nachhaltige Weinwirtschaft entstanden. Vereinigungen wie Fair'n Green und Fairchoice haben ein ganzheitliches System für nachhaltigen Weinanbau entwickelt, die neben dem Umweltschutz auch gesellschaftliches Engagement mit einbeziehen. Bisher gibt es um die 100 Weingüter in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz, die nach den Richtlinien von Fair'n Green oder Fairchoice zertifiziert sind.

14 Millionen Tonnen

So viel Treibhausgas binden die mediterranen Korkeichenwälder im Jahr. Deshalb ist ihr Produkt, der Naturkorken, im Vergleich zu Plastik, Alu oder Glas mit Abstand der nachhaltigste Flaschenverschluss! Kork hat eine gute Klimabilanz und lässt sich auch problemlos recyceln. Naturorganisationen wie der NABU warnen deshalb vor der Verdrängung von Naturkorken in Weinflaschen und haben zahlreiche Sammelstellen dafür eingerichtet. Recycelt dient Kork nämlich als umweltschonendes und nachhaltiges Dämmmaterial für Häuser.

Schon von Piwis gehört?

Dahinter verbergen sich "pilzwiderstandsfähige Rebsorten". Sie werden mehr und mehr im Weinbau eingesetzt. Positiver Effekt: Auf die chemische Keule zur Bekämpfung von Pilzerkrankungen kann verzichtet werden.

Bag in Box: Die Verpackungs-Alternative

Dahinter verbirgt sich ein von Pappkarton umschlossener Folienbeutel mit Ventil für das Einschenken von Wein. Das hat mehrere Vorteile: Das Ganze ist deutlich leichter als eine Glasflasche und hat so geringere Transport- und Verpackungskosten. Vergleicht man den Lebenszyklus mit dem einer Glasflasche, wird bei der Bag in Box 73 Prozent weniger Wasser als bei der Glasflasche verbraucht. Auch wenn die Bag in Box auf dem deutschen Markt noch nicht so verbreitet ist, neu ist die Idee nicht. Schon in der Antike wurden Beutel (aus Tierdärmen) zur Aufbewahrung von Alkohol genutzt.