Mein Vater, der Zodiac-Killer
Als sich Gary L. Stewart auf die Suche nach seinem leiblichen Vater macht, ahnt er nicht, worauf er bei seiner Recherche stoßen wird. Heute ist er sich sicher: Sein Vater war der „Zodiac-Killer“, jener legendäre Serienmörder, der Ende der Sechziger-Jahre den Norden Kaliforniens in Angst und Schrecken versetzte.
Gary Stewart ist 39, als er den Anruf erhält, der sein Leben verändert. Am anderen Ende der Leitung ist eine weibliche Stimme zu hören, und die Worte, die die Frau sagt, ziehen dem Ingenieur aus Baton Rouge in Louisiana den Boden unter den Füßen weg:
"Hallo Gary. Mein Name ist Judith – und ich bin deine Mutter." Stewart, der als Baby zur Adoption freigegeben wurde, stockt der Atem. Jahrzehntelang hat er sich gefragt, wer er ist, wie seine Eltern heißen – jetzt, im Jahr 2002, bekommt er endlich eine Antwort.
Sein Name war Van
Kurze Zeit später fliegt Stewart nach Oakland in Kalifornien, um seine leibliche Mutter kennenzulernen. Die beiden verstehen sich auf Anhieb gut – doch bei der Frage nach seinem Vater weicht Judith Gilford aus: "Er hieß Van", ist das Einzige, das Stewart zunächst erfährt, und dass sein Vater deutlich älter war als seine Mutter. Bei ihrer ersten Begegnung war er 27, sie 13.
"1962 haben wir geheiratet", erzählt Judith später. Bald darauf brennen die beiden nach New Orleans durch, und Judith wird schwanger – mit Gary. Als Van davon erfährt, ist er wenig begeistert. Nur drei Monate nach der Geburt bringt er das Baby nach Baton Rouge und legt es im Treppenhaus eines Mietshauses ab.
Judith kann ihm das nicht verzeihen – die beiden trennen sich. "Nach der Geschichte wollte ich eigentlich nichts mehr über ihn wissen", erinnert sich Stewart. Doch die Neugier ist stärker – und der 39-Jährige forscht bald weiter. Widerwillig verrät seine Mutter ihm schließlich den vollen Namen seines Erzeugers: Earl Van Best Jr. Außerdem zeigt sie ihm ein Bild seines Vaters – genauer: ein Polizeifoto.
Hier spricht der Zodiac
Wie Stewart erfährt, wurde Van bald nach der Trennung wegen Betrugs verhaftet und 1963 zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Nach seiner Entlassung versuchte er, Judith zurückzugewinnen, doch die ließ ihn abblitzen. Danach verliert sich seine Spur. Dafür beginnt wenig später in San Francisco eine unheimliche Mordserie. Während Stewart sich durch Polizeiakten und Zeitungsartikel wühlt, fällt ihm plötzlich das Phantombild jenes Killers in die Hände, der Ende der 60er-Jahre Kalifornien in Atem hielt – und ihm kommt ein schrecklicher Verdacht.
Ein 16-jähriges Mädchen und sein 17 Jahre alter Freund sind die ersten Opfer des Killers. Am 20. Dezember 1968 werden die beiden in ihrem Auto erschossen. Im Juli 1969 schlägt der Mörder wieder zu – auch diesmal trifft es ein junges Paar. Kurz darauf geht ein Brief beim "San Francisco Examiner" ein. "Hier spricht der Zodiac …", heißt es in dem Bekennerschreiben. Es enthält ein Rätsel mit 408 Symbolen, in dem der Name des Killers verschlüsselt sein soll. In den nächsten Monaten passieren weitere Morde, die Identität des Täters bleibt jedoch ungeklärt.
Und so steigt der Zodiac-Killer zum Mythos auf. Er wird in Büchern und Filmen aufgegriffen und inspiriert diverse Nachahmungstäter. Bis heute wird der Fall bearbeitet, doch obwohl im Lauf der Zeit gegen 2500 Männer ermittelt wurde, fehlt noch immer eine heiße Spur. Stewart glaubt, diese nun gefunden zu haben, denn für ihn ist nicht nur wegen der Ähnlichkeit mit dem Phantombild klar, dass sein Vater der Zodiac-Killer sein muss.
The Most Dangerous Animal of All
Der Durchbruch bei seiner Recherche gelingt ihm, als er die codierten Botschaften des Killers studiert und darin die Initialen seines Vaters entdeckt – ein Experte bestätigt den Fund. Es sind nicht die einzigen Indizien, die Stewart anführt. Die Fingerabdrücke seines Vaters aus der Polizeidatenbank scheinen mit denen, die beim Mord am Taxifahrer Paul Stine gefunden wurden, übereinzustimmen.
"Beide zeigen am rechten Daumen eine diagonale Narbe", so Stewart. Für ihn ein klarer Beweis, genau wie die Handschrift seines Vaters, die er von einem Gutachter mit der Schrift des Zodiacs vergleichen ließ. Auch sie stimmen überein. Doch was soll das Motiv seines Vaters gewesen sein? "Es war ein Rachefeldzug", meint Stewart. Sein Vater habe die Abfuhr der Mutter nie überwinden können.
Inzwischen hat Stewart ein Buch über seine Theorie geschrieben, das zum Bestseller avancierte und als Doku-Serie verfilmt wurde ("The Most Dangerous Animal of All"). Doch reicht all das aus, um den wohl mysteriösesten Kriminalfall der US-Geschichte zu lösen? Einen eindeutigen Beweis, etwa einen DNA-Test, konnte Stewart bislang nicht liefern.
Und auch sonst wird er von vielen kritisch beäugt – zum einen, weil er nicht der Erste ist, der behauptet, der Zodiac sei sein Vater. Zum anderen sind mittlerweile Widersprüche in seiner Theorie aufgedeckt worden, etwa dass sein Vater während einiger Morde offenbar gar nicht in den Staaten war. Stewart sieht die Vorwürfe gelassen. Nach Jahrzehnten der Ungewissheit glaubt er endlich zu wissen, wer sein Vater war – und von dieser Überzeugung abzurücken, ist er nicht bereit. Selbst wenn es bedeutet, der Sohn eines Killers zu sein.