Wie im Film, aber sehr real: Killer-Kalmare greifen an!
Sie kommen aus den Tiefen der Ozeane, sind angriffslustiger als Weiße Haie und gehen absolut lautlos vor: Humboldt-Kalmare faszinieren Meeresbiologen mit ihrer Aggressivität und Intelligenz. Trotzdem gehen nur wenige Spezialisten das Wagnis einer Begegnung mit den rätselhaften Riesentintenfischen ein.
Unterwasser-Albtraum im San-Andreas-Graben
Alex Kerstitch ist nicht nur Unterwasserfotograf und Meeresbiologe an der Universität von Arizona. Er ist auch ein erfahrener, unerschrockener Taucher. Doch in jener Nacht im August erlebt er einen Unterwasser-Albtraum.
Im Auftrag eines TV-Senders sondiert Kerstitch ein Tauchrevier in der Cortez-See. Das ist der Meeresarm, der die Halbinsel Baja California vom mexikanischen Festland trennt. Dieses Gewässer ist Teil des San-Andreas-Grabens – bis zu 5000 Meter tief – und eines der artenreichsten Tauchreviere der Erde.
Kerstitch taucht mit Kamera und Scheinwerfer. Plötzlich spürt er, wie etwas sein Bein umschließt. Ein Kalmar hat sich mit seinen Tentakeln an seinem Taucheranzug festgesaugt. Und das fast mannsgroße Tier beginnt den Taucher in die Tiefe zu ziehen. Kerstitch wehrt sich, strampelt, da greift ein zweiter Kalmar an und packte ihn am Genick. Kerstitch kämpft um sein Leben.
Doch plötzlich lassen die gigantischen Tintenfische los und ziehen sich zurück. Die Bilanz des Schreckens: diverse schmerzhafte Abdrücke von Saugnäpfen am Hals, abgerissene Haut. Außerdem haben die Kalmare Kerstitch seine Goldkette, die Lampe und den Tauchcomputer "abgezogen". Doch die Kamera hat er gerettet. Und mit den dramatisch verwackelten Aufnahmen den ersten Beweis geliefert, dass Kalmare einen Menschen tatsächlich angreifen.
Die Angriffslust des Humboldt-Kalmars
Dosidicus gigas, so der lateinische Name des Humboldt-Kalmars, ist – wie ein Großteil der Tiefseebewohner überhaupt – noch fast unerforscht.
Die Tiere leben im offenen Ozean, in Tiefen von bis zu 1200 Metern. Nur nachts kommen sie an die Oberfläche, um zu jagen. Und sie sind die perfekte Unterwasser-Jagd-Maschine. Der Leib: torpedoförmig. Er bewegt sich mit Jet-Antrieb fort. Kalmare saugen Wasser in ihre Mantelhöhle, pressen es schlagartig durch eine kleine Öffnung, den Siphon, wieder heraus und rasen mit Geschwindigkeiten von bis zu 25 Kilometern pro Stunde davon.
Humboldt-Kalmare werden bis zu 2,5 Meter lang und 50 Kilo schwer. Ihre zehn Fangarme haben bis zu 200 Paar Saugnäpfe – die mit messerscharfen Zähnen besetzt sind. Über die Angriffslust der Riesentintenfische erzählen Fischer und Seefahrer schon seit Jahrhunderten Schauergeschichten. Und weil sie so unglaublich klingen, hielten Wissenschaftler sie lange für genau dies – unglaubliche Schauergeschichten.
"Ich war sofort verliebt in diese Tiere. "
Doch der Kerstitch-Film brachte Bewegung in die Erforschung von Humboldt-Kalmaren. Vor allem zwei Männer sind der Faszination der Giganten aus der Tiefsee erlegen: William Gilly, ein Meeresbiologe von der Stanford-Universität. Und Scott Cassell, ein Unterwasserfotograf, der bereits mehr als 300-mal mit den Humboldt-Kalmaren getaucht ist.
Beide haben die angriffslustige Seite der Kalmare selbst erlebt. Bei einem Tauchgang wurde Cassell Zeuge, wie einer der riesigen Tintenfische einen Hai angriff und ihm ein gut zwei Kilo schweres Stück Fleisch aus dem Leib riss. Und auch seine eigene Tentakel-Taufe wird er nie vergessen: Bei einem Dreh sah sich der Fotograf plötzlich von einem Schwarm Humboldt-Kalmare umzingelt. Wie aus dem Nichts waren sie vor ihm aufgetaucht. Einer der Riesen stieß ihm mit dem Fangarm die Kamera ins Gesicht, "so hart wie ein Mann mit einem Baseballschläger".
Ein zweiter wickelte einen Arm um Scotts Kopf und kugelte ihm dabei die Schulter aus. Ein dritter biss sich in seinem Brustkorb fest und zog ihn so schnell in die Tiefe, dass der Taucher in Todesangst den Druckausgleich nicht schaffte. So unerwartet wie sie erschienen waren, ließen die blutrot aufflackernden Wesen wieder von ihm ab. Zitternd und mit einem geplatzten Trommelfell konnte sich Cassell an Deck seines Schiffes retten. Und als der Schrecken nachließ, kam die Begeisterung für die raffinierten Angreifer: "Ich war sofort verliebt in diese Tiere."
Nirgendwo scheinen sich Urgewalt, Aggression und evolutionäre Perfektion so zu vereinen wie in diesen Bewohnern der Finsternis. Auch Attacken, bei denen Menschen zu Tode gekommen sind, konnten schon nachgewiesen werden.
Warum werden Humboldt-Kalmare niemals satt?
Cassell glaubt auch fest an die Berichte über mexikanische Fischer, die spurlos von ihren Booten verschwanden – von Saugnäpfen, die ringsum mit spitzen Zähnen gesäumt waren, in die Abyssale des Ozeans gerissen. "Humboldt-Kalamare sind definitiv in der Lage, Menschen zu töten und auch zu fressen", sagt der gefahrenerprobte Fotograf. "Ich bin schon oft genug in ihre Fänge geraten."
Der unbändige Hunger der Kalmare überzeugt Meeresforscher wie ihn erst recht nicht vom Gegenteil. Die Tiere fressen nicht nur restlos alles, was ihnen in die Quere schwimmt. Sie werden auch zu Kannibalen, sobald ihnen ein Artgenosse die Gelegenheit dazu gibt: etwa, wenn einer hilflos an einem Köder hängt.
Cassell hat sogar einen Kalmar beobachtet, der noch nach Fischen schnappte, während er vor einem seinerseits hungrigen Grindwal floh. Solch dämonischen Appetit schreibt Gilly einer simplen Notwendigkeit zu: Humboldt-Kalmare leben maximal zwei Jahre. Ihre Wachs tumsrate ist hingegen enorm – jeden Tag fressen sie 10 bis 15 Prozent ihres Körpergewichts. Innerhalb eines Jahres bringen sie es von einem Zehntel Gramm auf 40 Kilo und mehr!
Das ist etwa so, als nähme ein Menschenbaby binnen 24 Monaten die Körpermaße eines ausgewachsenen Buckelwals an!