Grusel-Update

Slenderman - Das steckt hinter der tödlichen Legende

Slenderman hat keine Augen, und doch kann er alles sehen. Er hat keine Ohren, und doch kann er alles hören. Er ist der gesichtslose Mann in Schwarz, und Morgan Geyser war bereit, für ihn zu morden.

Die tödliche Legende von Slenderman.
Slenderman - Das steckt hinter der tödlichen Legende Foto: iStock/kWaiGon
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Was genau das Mädchen zu der Tat getrieben hat, bleibt für die Ermittler lange ein Rätsel. wdw begibt sich auf die Spurensuche nach dem Ursprung des Slenderman und erklärt, wie aus einer harmlosen Gruselgeschichte im Internet ein mörderischer Mythos wurde, der nun sogar seinen Weg auf die Leinwand gefunden hat.

Slenderman, die Legende

Es ist ein sonniger Frühlingstag, als Greg Steinberg beschließt, eine Radtour durch das Städtchen Waukesha in Wisconsin zu machen. Langsam fährt er durch die Straßen und Parks, als er plötzlich am Rande eines Waldstücks ein Mädchen im Gras liegen sieht. Je näher er kommt, desto größer wird sein Unbehagen. Sind das leise Hilferufe? Als er es endlich erreicht, stockt Greg Steinberg der Atem: Der Körper des kleinen Mädchens ist übersät mit Stichverletzungen. Sofort verständigt er den Notarzt. "Wer hat dir das angetan?", fragt er das Mädchen. Die Antwort wird sich ihm für immer ins Gedächtnis brennen: "Das war meine beste Freundin. Sie hat immer wieder auf mich eingestochen …."

Payton Leutner wird umgehend in die Notaufnahme des Waukesha Memorial Hospital eingeliefert. Ihr Zustand ist kritisch, sie wird sofort operiert. Insgesamt 19 Stichverletzungen müssen die Ärzte versorgen. Zwei Hauptschlagadern sind verletzt, Zwerchfell, Leber und Magen durchbohrt – einer der Stiche hat nur um einen Millimeter das Herz verfehlt. Während die Ärzte verzweifelt um das Leben von Payton kämpfen, sucht die Polizei mit Hochdruck nach der vermutlichen Täterin. Ist es wirklich die beste Freundin, die auf Payton eingestochen hat? Was könnte ein kleines Mädchen zu einer solchen Tat angetrieben haben? Vor den Ermittlern breitet sich ein Puzzle des Grauens aus, das sie in den nächsten Stunden Stück für Stück zusammensetzen werden.

Die Diener des Slenderman

Detective Tom Casey betritt eines der Verhörzimmer des Waukesha Police Departments. Vor ihm sitzt ein junges Mädchen und spielt gedankenverloren mit den Haaren – es handelt sich um Morgan Geyser, Paytons beste Freundin. „Was glaubst du, warum du heute hier bist?“, fragt Casey. "Weil Anissa und ich Payton wehgetan haben," antwortet Morgan gleichgültig. Anissa Weier sitzt nur eine Tür weiter und wird ebenfalls verhört. Gemeinsam mit Morgan wurde sie wenige Stunden nach der grausamen Messerattacke auf einer Landstraße aufgegriffen. Im Verhör gesteht sie, Payton Leutner in den Wald gezerrt und Morgan immer wieder angefeuert zu haben, auf ihre Freundin einzustechen. Anschließend habe sie ihrem Opfer gesagt, dass sie Hilfe holen würde, habe das aber nie wirklich vorgehabt.

Zusammen mit Morgan schlägt sich Anissa stattdessen durch die Wälder von Waukesha bis zu einer Landstraße durch, wo die beiden schließlich von der Polizei gefasst werden. "Wir wollten die Diener von Slenderman werden und ihn in seinem Haus im Wald besuchen. Aber dafür mussten wir uns erst würdig erweisen, indem wir Payton umbringen", erklärt Anissa im Verhör. Wer ist dieser mysteriöse Slenderman, von dem das Mädchen spricht? Einen Raum weiter versucht Detective Casey, die Wahrheit herauszufinden. Es fällt ihm schwer, sich sein Entsetzen über die Tat nicht anmerken zu lassen: "Morgan, warum hast du versucht, Payton zu töten?" Die Zwölfjährige antwortet: "Es musste sein, Slenderman hat es so verlangt. Er hat kein Gesicht, aber er sieht trotzdem alles. Er hat Anissa gesagt, dass wir Payton töten müssen." Den Ermittlern gefriert bei diesen Worten das Blut in den Adern. Wer oder was hat die Mädchen nur zu dieser unvorstellbaren Tat getrieben?

Die Entstehung des Gedankenvirus'

Zu ihrem elften Geburtstag bekommt Anissa von ihren Eltern ein Tablet geschenkt, seitdem surft sie fast durchgehend im Internet. In der Schule ist sie eine Außenseiterin, sie wird gemobbt. Im Internet jedoch kann Anissa in eine andere Welt abtauchen – in eine Welt, die immer düsterer wird. Immer häufiger tauscht sich das junge Mädchen dort mit anderen über seine Todessehnsüchte und Gewaltfantasien aus und stößt dabei schließlich auf den Mythos vom Slenderman – einer gesichtslosen Horrorgestalt im schwarzen Anzug, mit grotesk in die Länge gezogenen Gliedmaßen. "Alle sind anders als du, niemand mag dich. Aber da ist dieses Monster, das dich versteht. Kaum ein anderer Mechanismus kann das Gehirn eines jungen Menschen so vereinnahmen wie dieser", erklärt Abigail Baird, Psychologie-Professorin an der Boston University.

Anissa saugt alles auf, was mit dem Slenderman zu tun hat, studiert regelrecht die urbanen Legenden, die diese Figur umranken. Angeblich verfolge er vor allem Kinder, um sie anschließend in ihren Träumen zu jagen. Wer sich jedoch als würdig erweise, der habe nichts zu befürchten und würde von allem Leid befreit. Auf Videoplattformen finden sich unzählige Videos, die die Existenz dieses Wesens beweisen sollen – keines davon ist echt. Denn der Slenderman ist ein Internetphänomen, eine Horrorfigur, die eigens für einen Fotowettbewerb ersonnen wurde. Seine Entstehung lässt sich genau nachvollziehen und kann bis zu seinem ersten Erscheinen im Jahr 2009 zurückverfolgt werden. Anissa jedoch glaubt an den Slenderman, für sie werden die Gruselgeschichten zur Realität. "

Die Geschichte dieser Figur weist viele Parallelen zu anderen Horrorwesen auf, das Meiste bleibt jedoch vage. Wer oder was Slenderman wirklich ist, variiert von Erzählung zu Erzählung. Dadurch wird er zu einer Art Projektionsfläche für kulturelle Ängste," erklärt Trevor J. Blank, der an der New Yorker Potsdam University Internetphänomene erforscht. "Je nach Auslegung kann Slenderman auch als eine Art dunkler Schutzengel verstanden werden. So etwas kann ein kraftvoller Motor für Menschen sein, die sich hilflos fühlen und die ihren Platz in der Welt suchen." Besonders gefährlich daran: Das menschliche Gehirn ist darauf gepolt, solche Geschichten mit Gleichgesinnten zu teilen. Die Geschichte vom Slenderman funktioniert also wie ein Gedankenvirus. Sie nimmt den Geist ihrer Opfer vollkommen für sich ein, bis der Erreger schließlich geteilt wird. Eine gefährliche Spirale, die auch Anissa erreicht. Sie bekommt die Gestalt im Anzug nicht mehr aus ihrem Kopf, und als sie in der Schule ihre Mitschülerin Morgan kennenlernt, entwickelt sich eine mörderische Freundschaft, die schließlich zur Katastrophe führt – denn Morgan ist ebenfalls besessen vom Slenderman, und in ihr schlummert ein dunkles Geheimnis.

19 Stiche für den Slenderman?

19 Mal sticht Morgan auf Payton ein, während Anissa sie dabei anfeuert. Alle drei Mädchen sind zum Tatzeitpunkt gerade erst zwölf Jahre alt – noch am Abend vorher haben sie gemeinsam Geburtstag gefeiert. Eine Woche lang kämpft Payton auf der Intensivstation ums Überleben und gewinnt den Kampf schließlich. Jedoch ist sie für immer gezeichnet, denn die Tat ist nicht nur von langer Hand geplant, sondern auch absolut gefühlskalt durchgeführt. "Auf Payton einzustechen, war, wie Luft zu schneiden. Ich habe überhaupt nichts gespürt", erklärt Morgan bei ihrer Befragung. Die Gerichtsverhandlung ist aufwendig. Knapp vier Jahre sitzen Anissa Weier und Morgan Geyser in Sicherheitsverwahrung und werden dabei immer wieder von Psychologen untersucht.

Vor Gericht werden sie wegen der Schwere ihrer Tat nach Erwachsenenstrafrecht behandelt, doch niemand kann sich erklären, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Bis die Psychologen schließlich ihren Bericht vorlegen und Morgan eine schwere Schizophrenie attestieren. Ihrem Urteil nach war der Slenderman für das Mädchen Realität. Er habe sich in ihrer Wahrnehmung manifestiert und ihr zugeflüstert, bis sie schließlich zu der Tat bereit gewesen sei. Anissa hingegen scheint keinerlei Anzeichen einer geistigen Erkrankung aufzuweisen. Der soziale Druck durch ständiges Mobbing habe sie schließlich in eine Parallelwelt getrieben, in der das Horrorwesen Slenderman ihr Halt gegeben hätte. Jury und Richter teilen diese Einschätzung, dennoch entscheiden sie sich für eine harte Strafe: Anissa wird zu 25 Jahren Sicherheitsverwahrung in einer Psychiatrischen Klinik verurteilt, Morgan zu 40 Jahren – das Gefängnis bleibt ihnen erspart. Morgans letzte Worte vor Gericht sind dieselben, die sie auch kurz vor der Tat ihrem Opfer ins Ohr flüstert: "Es tut mir so unendlich leid, Payton."

Mythos Slenderman - wie alles begann

Am 10. Juni 2009 veröffentlicht Eric Knudsen unter dem Pseudonym Victor Surge für einen Fotowettbewerb der Website Something Awful zwei bearbeitete Fotos (siehe unten). Diese sollen beim Betrachter ein Gefühl von Unbehagen und Terror auslösen, ohne dass eine klare Ursache dafür erkennbar ist – seine Schöpfung nennt er schlicht "The Slender Man" (Dt. "der schlanke Mann"). Die Bilder werden tausendfach im Internet geteilt und in Kurzgeschichten und Videoclips aufgegriffen. So verselbstständigt sich Knudsens Schöpfung schließlich, bis aus dem schlanken Mann der Internet-Mythos des Slenderman wird (Foto: Screenshot aus der Netflix-Serie).

Protokoll des Schreckens

Morgan Geyser (oben) und Anissa Weier (unten) werden nur wenige Stunden nach der grausamen Messerattacke gefasst, ihr Opfer Payton Leutner liegt zu diesem Zeitpunkt im Not-OP des Waukesha Memorial Hospitals. Im Verhör gestehen beide Mädchen die grausame Tat und geben unabhängig voneinander an, dass sie ihre Freundin im Namen des Slenderman opfern wollten. Die Detectives erfahren, dass die Tat der damals Zwölfjährigen von langer Hand geplant ist und sie ihr Opfer schon seit längerer Zeit töten wollen. Nach der Bluttat machen sich die beiden Mädchen in den Wäldern von Waukesha auf die Suche nach Slenderman. Für den geplanten Mord und die Wanderung hatten Morgan und Anissa eigens eine Liste mit Ausrüstungsgegenständen erstellt (unten).