Ring of Brodgar: Das wahre Stonhenge
Am Rande der europäischen Zivilisation haben Forscher eine Entdeckung gemacht, die allen Naturgesetzen zu widersprechen scheint. Auf den sturmumtosten Orkney-Inseln hat eine längst untergegangene Zivilisation gelebt. Muss die Geschichte Europas neu geschrieben werden?
Hier, im hohen Norden Europas, ist man den Elementen wehrlos ausgesetzt. Wenn Wind und Regen erbarmungslos über die Wiesen peitschen, gibt es keinen Berghang, an dem man Schutz suchen kann. Und doch trotzen seit mehr als 5.000 Jahren die Menhire den Naturgewalten.
So werden die Monolithen in der keltischen Sprache genannt, die den Ring of Brodgar bilden. Dieser ist mit seinen 104 Metern Durchmesser nicht nur größer als das weltberühmte Stonehenge in Südengland, sondern auch rund 500 Jahre älter. Jetzt fanden Archäologen heraus: Der Ring of Brodgar ist nur ein winziger Teil einer komplexen, verschütteten Struktur.
Wo liegt die Wiege Nordeuropas?
Wenn wir uns mit Hochkulturen beschäftigen, denken wir an griechische Philosophen, an minoische Fresken, an die Pyramiden von Gizeh. Wir denken jedoch sicher nicht an die Orkney-Inseln. Das schottische Archipel ist rau, nass und wild – die meisten der 70 Inseln sind unbewohnt.
Doch vor mehr als 5.000 Jahren müssen Menschen der Jungsteinzeit dort auf eine bisher völlig unbekannte Weise gewaltige Anlagen errichtet haben: Tempel, Wohnhäuser – und die Henges. Der Ring of Brodgar auf "Mainland", der Hauptinsel der Orkneys, besitzt von den ursprünglich 60 Menhiren noch 27.
Die bis zu drei Meter hohen Monolithen ragen aus dem Boden, fast als seien sie aus der Erde gewachsen. Sie stehen in einem Ring aus grünstem Gras, die Mitte der Henge wird vom Heidekraut violett gefärbt.
Hier, wo dasLand flach und menschenleer ist, scheint man der Unendlichkeit ganz nah zu sein – ein Knotenpunkt zwischen dem Reich der Lebenden und dem Reich der Toten. "Und genau das könnte der Zweck dieser Henge gewesen sein", sagt der Archäologe Nick Card.
Rund 1,5 Kilometer entfernt ragen die vier verbliebenen (von ursprünglich zwölf) Monolithen eines weiteren Henges in die Höhe: Die Stones of Stenness haben zwar nur einen Durchmesser von 30 Metern, sind aber sogar noch älter als der Ring of Brodgar.
Und genau zwischen den beiden Henges graben Archäologen eine der größten zeremoniellen Stätten der Welt aus: einen gewaltigen Tempel, der mindestens 5.200 Jahre alt ist. Die Theorie der Archäologen: Der gesamte Komplex war Teil einer rituellen Zeremonie.
Die Prozession startete bei den Stones of Stenness, durchquerte dann diesen Tempel und betrat beim Ring of Brodgar symbolisch das Totenreich. Auf eine solche Prozession lassen die Funde im Tempel schließen: Aus Abfällen der alten Zivilisation wird klar, dass die Anlage nicht dauerhaft genutzt wurde, sondern nur für Rituale.
Die Route der Zivilisation
Der Tempel besteht aus einer Ansammlung von mehreren Steinhäusern, umgeben von einer drei Meter hohen und fünf Meter dicken Mauer. Zum Vergleich: Die Einzigen, die eine annähernd große Mauer in Großbritannien bauen konnten, waren die Römer mit dem Hadrianswall – 30 Jahrhunderte später! "Wir stehen erst am Anfang der Ausgrabung", sagt Leiter Nick Card. "Aber von den Ausmaßen ist dashier auf dem Level einer Akropolis."
Noch mehr als die Bauweise hat es dem Forscher aber eine Scherbe mit besonderen Gravuren angetan. Die unverkennbaren Muster in der Keramik finden sich auch in Ausgrabungsstätten weiter südlich in England.
Card traute seinen Augen kaum, als das Alter der Scherbe datiert wurde: Die Keramik von den Orkney-Inseln ist älter als alle bisher gefundenen. Doch wie kann das sein? Bisher gingen Historiker davon aus, dass die Kultur von Süden nach Norden verbreitet wurde.
Doch die Scherbe beweist das Gegenteil. Auf den Orkney-Inseln muss eine Zivilisation gelebt haben, die ihr Wissen in den Süden brachte. Das würde auch erklären, warum das berühmte Stonehenge jünger ist als der Ring of Brodgar – Stonehenge ist nur die Kopie.
Doch warum lebten Menschen überhaupt auf diesem sturmumtosten Archipel? Die Antwort: Das Land ist extrem fruchtbar und das Meer voller Fisch. Die Orkney-Inseln liegen mitten im warmen Golfstrom, der ständig Nährstoffe anschwemmt. Warum die Menschen ihre Heimat dann aber verließen, bleibt ein Rätsel.
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