Kein Seemannsgarn: Monsterwellen existieren wirklich
Lange Zeit hielt man Monsterwellen für Seemannsgarn von Matrosen, mit denen die Phantasie durchgegangen ist. Heute weiß man: Sie existieren wirklich. Jeden Monat werden auf unserem Planeten etwa drei Monsterwellen erfasst.
Wie hoch kann ein Kaventsmann wirklich werden?
Alles geht rasend schnell. So schnell, dass die Crew der MV "Derbyshire" nicht einmal mehr einen Notruf absetzen kann. Nach wenigen Minuten ist der 294 Meter lange Massengutfrachter gesunken – mitsamt 157.000 Tonnen Eisenerz und 44 Mann Besatzung.
Ein Schiff, dass als unsinkbar galt und so lang wie drei Fußballplätze ist, verschwindet spurlos vor der japanischen Küste. Erst 15 Jahre später wird es in 9.000 Metern Tiefe gefunden. Aber was lässt ein Schiff mit einer Ladekapazität von 15.000 Doppeldeckerbussen in einem derartigen Tempo untergehen?
Heute weiß man: Die "Derbyshire" ereilte das gleiche Schicksal wie den Luxusliner SS "Waratah", den Frachter "München" und den Fischtrawler "Suwa Maru No. 58". Sie alle hörten von einer Minute auf die andere auf zu existieren, als eine Monsterwelle, auch Freak Wave oder Kaventsmann genannt, sie traf.
Schiffe haben gegen Monsterwellen keine Chance
Dabei sind längst nicht nur ältere Schiffe gefährdet. Auch bei der Konstruktion neuer Schiffe wird häufig ein hohes Risiko eingegangen. Das hat zwei Gründe: Erstens werden bei der Berechnung der Dicke der Stahlkonstruktion Wellen mit viel zu geringen Belastungen zugrunde gelegt.
"Gegen eine Monsterwelle haben solche Schiffe keine Chance", sagt Wolfgang Rosenthal (Helmholtz-Zentrum Geesthacht), ein Pionier der Monsterwellenforschung. Tatsächlich drücken diehaushohen Freak Waves mit bis zu 50 Tonnen pro Quadratmeter auf das Deck.
Viele Hochseeschiffe sind jedoch nur für Belastungen von höchstens 15 Tonnen pro Quadratmeter ausgelegt. Zweitens: Da die neuen Container- und Kreuzfahrtschiffe aus Kostengründen immer breiter und länger gebaut werden, können sie nicht mehr mit Wellen mitschwingen. Dadurch steigt die Gefahr, dass sie wie Spielzeugboote in ein Wellental fallen.
Aber wie groß können Kaventsmänner wirklich werden? Und wie häufig tauchen sie in den Ozeanen auf? Heute vermuten Forscher: Riesenwellen entstehen unter anderem, wenn sich mehrere Wellen auftürmen oder wenn ein anhaltender Sturm eine einzelne Welle aufschaukelt.
Die Häufigkeit solcher Stürme hat dabei um 38 Prozent zugenommen – eine direkte Folge der Klimaerwärmung. Ein Expertenteam unter Leitung von Professor Dr. Uwe Wolfram von der Heriot-Watt University in Edinburgh registrierte durchschnittlich drei Monsterwellen pro Monat, und nach Angaben des Lloyd’s-Schiffsregisters versenkt jede dritte Freak Wave ein Schiff.
Monsterwellen haben eine mörderische Kraft
"Monsterwellen treten deutlich häufiger auf als bisher gedacht", erklärt Anne Karin Magnusson vom Norwegischen Meteorologischen Institut in Oslo. Die Ozeanografin analysiert mithilfe von Sensoren und Radarfallen die Freak Waves, die immer wieder Schiffe zum Kentern bringen.
Zehntausende Wellen hat sie ausgewertet, bis zu 26 Meter hoch, Hunderttausende Tonnen schwer, 100 Meter breit und 18 Meter pro Sekunde schnell, also 64 km/h. Kein Wunder, dass solche Wellen nicht nur Schiffen gefährlich werden.
Als eine der wenigen Bohrinseln besaß die "Ocean Ranger" vor der Küste Neufundlands eine uneingeschränkte Einsatzgenehmigung für die schwierigsten Gewässer der Welt – sie galt als unsinkbar. Bis sie am 15. Februar 1982 um drei Uhr morgens von einer Monsterwelle mit der bis dahin höchsten datierten Zerstörungskraft getroffen wurde.
Die Plattform war zu diesem Zeitpunkt die größte der Welt; ihr unterstes Deck lag 35 Meter hoch über dem Meeresspiegel. Nicht hoch genug. Nachdem die Welle die höchstgelegenen Fenster durchschlagen und einen massiven Wassereinbruch verursacht hatte, sank die Bohrinsel innerhalb weniger Minuten und zog 84 Mann mit auf den Meeresgrund.
Es wurden keine Überlebenden geborgen – die "Ocean Ranger" hörte von einem Moment auf den anderen auf zu existieren. Genauso wie die Geisterschiffe, die zu Hunderten jedes Jahr von einem Moment auf den anderen spurlos im Ozean verschwinden, und heute entweder auf dem Meeresgrund liegen – oder als führerlose Phantome über die Meere treiben.