Frank Stäbler, Deutschlands Mental-Monster
Frank Stäbler ist vielleicht Deutschlands ungewöhnlichster Weltmeister. In der Sportgeschichte hat noch nie ein Ringer drei WM-Titel nacheinander in drei verschiedenen Klassen gewonnen – und das, obwohl Stäbler von seinen Voraussetzungen her noch nicht einmal zur Weltspitze gehören dürfte. Das Geheimnis ist sein Kopf: "Welt der Wunder" erklärt er exklusiv seine Tricks …
Es sind nur Sekunden in diesem Viertelfinale der Ringer-WM im Oktober 2018 in Budapest. Sekunden, in denen für die Zuschauer augenscheinlich nichts weiter passiert, als dass zwei Gegner auf das Ende einer Kampfpause warten: links der Deutsche Frank Stäbler, rechts der Kasache Demeu Zhadrayev. Sekunden im Leerlauf? Keineswegs: Für den Schwaben aus Musberg bei Stuttgart bedeuten diese Sekunden alles. Er liegt mit 0:6 hinten – ein 0:7 und er ist raus aus dem Titelrennen. Doch er schafft es in dieser Zeit, den Schalter im Kopf umzulegen und sich zu fangen.
Wie noch kein Ringer vor ihm kann er den aussichtslosen Rückstand aufholen und das Match 10:6 gewinnen. Und damit nicht genug: Im Halbfinale und Finale schlägt er körperlich und technisch überlegene Gegner – den Lokalmatadoren Balint Korpasi sogar gegen dessen frenetisch brüllende Anhängerschaft in eigener Halle. Frank Stäbler wird zum dritten Mal hintereinander Weltmeister und als allererster Athlet überhaupt sogar in drei verschiedenen Gewichtsklassen …
Interview mit Frank Stäbler
Herr Stäbler, was war denn da los im Viertelfinale?
Ich hatte zuvor unglaublich viele Fehler gemacht. Ich begann mit mir hadern, zu fluchen. Ich war stehend k.o. Und in dem Moment, beim Blick auf den Hallenboden, hab ich das bemerkt: Hey, anstatt dich auf den Kampf zu konzentrieren, lässt du gerade negative Emotionen die Oberhand gewinnen. Ein paar Sekunden später habe ich den Hebel in meinem Gehirn wieder auf Sieg gelegt – und die entscheidenden Reserven freigesetzt.
Wie funktioniert das konkret?
Da muss ich etwas weiter ausholen. Ich liebe Ringen, für mich der schönste Sport der Welt. Seit ich vier bin, stehe ich auf der Matte. Aber irgendwann musste ich mich der Einsicht stellen, dass so einer wie ich eigentlich nie Weltmeister werden kann. Hier in Deutschland ist Ringen ein Randsport, ich hatte monatelang nicht einmal eine Halle: Um mich auf die WM vorzubereiten, musste ich zeitweise im alten Kuhstall meines Vaters trainieren.
In Osteuropa und Zentralasien sind erfolgreiche Ringer dagegen Volkshelden, die entsprechende Förderung erhalten. Von den Top Ten der Welt sind wenigstens zwei Drittel durch den Sport zum Millionär geworden. Zwischen uns liegen Welten: Ich kann zum Beispiel maximal zehn Trainingseinheiten pro Woche absolvieren, mehr packt mein Körper nicht. Mit entsprechender medizinischer und personeller Unterstützung schaffen Athleten in anderen Ländern aber vielleicht 15 Einheiten. Manche meiner Gegner haben vier Kilogramm mehr Muskelmasse, Welten im Leistungssport. Gegen deren Vorsprung an Technik und Kraft habe ich keine Chance – eigentlich. Ich brauche also einen Plan B. Und das ist mein Kopf.
Was macht denn ein Siegergehirn aus?
Es geht darum, drei grundlegende Fähigkeiten zu erlernen:
A) Die absolute Fokussierung. Das heißt, seine Psyche wie in einem Gummiball abschirmen und von außen nichts an sich herandringen lassen. Nur das Hier und Jetzt darf existieren.
B) Angst und Druck nutzen. Gewinnen kann jeder mal: Es ist aber wesentlich leichter Weltmeister zu werden, als Weltmeister zu bleiben. Nach meinem ersten Titel stürmte soviel auf mich ein, plötzlich hat mich Erwartungshaltung wie ein böses Monster überallhin begleitet. Du musst es zu deinem Verbündeten machen.
C) Unerschütterlicher Glaube an sich selbst, egal was passiert. Das ist vielleicht das Wichtigste, 99 Prozent der Leute können diesen Glauben im entscheidenden Moment nicht abrufen. Sie zweifeln. Und das kostet Kraft.
Das hört sich toll an. Aber wie trainiert man das?
Zu jeder physischen Einheit mache ich eine mentale Einheit. Viel passiert über Atemtechniken: zum Beispiel bewusst zehn Mal Negatives herausatmen und Positives einsaugen. Das kann man auch mithilfe einer Visualisierung üben. Ich nutze in bestimmten Momenten ein Codewort, zum Beispiel einen Wasserfall. Damit stelle ich mir vor, wie meine Gedanken fließen und Negatives wegspülen. Das klingt simpel, ist in Wahrheit aber irre schwierig. Ich hab’ ein Jahr gebraucht, bis ich das ein bisschen konnte.
Wichtig ist auch die Sichtweise auf vermeintlich negative Dinge, die passieren, wie etwa ein 0:6-Rückstand im WM-Viertelfinale. "Mist, warum vergeigst du das", ist ein nachvollziehbar realistischer Blick auf diese Tatsache. Doch es geht auch anders: Ich habe mich stattdessen über dieses Privileg der Herausforderung gefreut: "Spitze, jetzt kannst du wirklich über dich hinauswachsen und der Welt die absolut beste Version von dir zeigen." Alles, was passiert, passiert für mich.
Das erinnert stark an Selbstbetrug.
Genau das ist die Kunst. Diese positive Blase zu erschaffen, die dich zum Sieger macht. Verstehen Sie mich nicht falsch: Die Grundlage jedes Erfolgs ist harte Arbeit. Blut, Schweiß und Tränen. Aber ab einem bestimmten Level gilt: Vergiss Kraft und Technik, du musst zum Mental-Monster werden.
Das setzt unfassbare Energie frei. Ich hatte mir vor den Olympischen Spielen 2016 das Syndesmoseband im Fuß gerissen – das gleiche Übel hatte übrigens mal den Fußballer Marco Reus drei Monate lang außer Gefecht gesetzt. Ich habe in der gleichen Zeit drei Kämpfe durchgezogen, auf einem Bein. Und nur gegen den späteren Olympiasieger verloren.
Der Kopf hat also doch Grenzen. Wann geben sie auf?
Ich habe keine Hintertür oder einen Notausgang. Im übertragenen Sinne bin ich – wenn es drauf ankommt – bereit, mit wehenden Fahnen zu sterben. Auch beim Verlieren will ich gewinnen. Denn nur wenn ich alles getan habe, was in meiner Macht steht, dann kann ich auch guten Gewissens den Kürzeren ziehen – weil ein Sieg dann eben nicht in meiner Macht stand. Aber diese Gedanken mache ich mir nicht. Das befreit ungemein. Und das spüren meine Gegner vor dem Kampf: Ich bin gelöst und zwinkere ihnen zu, wünsche ihnen Glück. Ich bemerke oft, wie die das beschäftigt. Warum ist der so gut drauf? Noch so ein Vorteil auf meiner Seite.
Taugt das denn nicht nur für privilegierte Spitzensportler, die ihr Leben auf ihre Ziele ausrichten können?
Es kann selbstverständlich nicht jeder Weltmeister werden. Aber jeder kann durch mentales Training besser werden und zum Beispiel mit dem Rauchen aufhören oder sich mehr bewegen. Jede Veränderung beginnt im Kopf mit der Frage: Was will ich? Und wenn das Warum dazu stark genug ist, dann kommt das Wie von allein.
Selbst in einem durchorganisierten Tag lassen sich Lücken finden: Ich zum Beispiel meide negativ gepolte Leute, so gut es geht. Wenigstens vor Wettkämpfen. Und ich schaue seit Jahren wenig Fernsehen und lese nur ab und zu Nachrichten. Um mehr Zeit zu haben, aber auch, weil mich die 90 bis 80 Prozent negativen Inhalte darin runterziehen. Statt TV zu konsumieren oder Kraft zehrende Menschen zu treffen, kann jeder in sich gehen – und einfach mal bewusst atmen …