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Cannabis-Legalisierung in Deutschland: Interview mit Experte Dr. med. Julian Wichmann!

Seit dem 1. April 2024 gilt in Deutschland das Cannabisgesetz (CanG). Wir haben mit Experte Dr. med. Julian Wichmann über die neuen Regeln gesprochen.

Cannabis-Blüten, Dr. med. Julian Wichmann
Dr. med. Julian Wichmann im Interview über die Cannabis-Legalisierung in Deutschland Foto: IMAGO / Torsten Leukert ; (Bearbeitung & Collage: Männersache)
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Lange stand das Cannabisgesetz (CanG) auf der Kippe, letztlich trat es jedoch am 1. April 2024 in Kraft. Es bringt nicht nur Veränderungen im Umgang mit Cannabis als Genussmittel, sondern auch als medizinisches Produkt mit sich.

Wir haben mit Dr. med. Julian Wichmann, seines Zeichens CEO der Telemedizin-Plattform "Algea Care" und Experte im Bereich des medizinischen Cannabis, über die neuen Regeln gesprochen.

Bevor sich Wichmann auf Cannabis spezialisierte, war er als Radiologe sowie im ärztlichen Bereitschaftsdienst tätig. Aus dieser Zeit stammt seine Expertise, wenn's um Nebenwirkungen von herkömmlichen Medikamenten (Schmerz- & Schlafmittel, Antidepressiva etc.) geht.

Über Algea Care haben die kooperierenden Ärzt:innen bis zum 31. März 2024 mehr als 20.000 Patient:innen behandelt und dafür über 100.000 Termine durchgeführt. Allein in den ersten drei April-Tagen haben sich 10.000 neue potenzielle Patient:innen registriert.

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Interview mit Cannabis-Experte Dr. med. Julian Wichmann

MNRS: Wie bewerten Sie das Cannabisgesetz: Ist es gelungen?

Wichmann: "Das Cannabisgesetz, kurz CanG, entkriminalisiert den Cannabis-Konsum als Genussmittel. Oft zu kurz kommt aber, dass sich auch für Cannabis-Patient:innen einiges verbessert hat. Denn seit dem 1. April gilt medizinisches Cannabis nicht mehr als Betäubungsmittel, sondern wie auch Antibiotika, Antidepressiva oder hoch dosiertes Ibuprofen nur noch als verschreibungspflichtiges Arzneimittel.

Dies bedeutet einen Meilenstein für die Therapie mit medizinischem Cannabis. Zwar hatte sich Cannabis als Medizin bereits seit 2017 bewährt, hierzulande wurde die Therapie bis dato oftmals allerdings von Ärzt:innen zurückhaltend eingesetzt und war auch der Bevölkerung meist unbekannt.  

Diese Reklassifizierung von medizinischem Cannabis vereinfacht den Zugang zur Therapie deutlich. Der administrative Aufwand für Ärzt:innen, aber auch Apotheker:innen nimmt ab. Auch für Indikationen wie Schlafstörungen oder Depressionen dürften Ärzt:innen nun häufiger medizinisches Cannabis verordnen.

Ich gehe außerdem davon aus, dass medizinisches Cannabis in der Medizin endlich entstigmatisiert und bei zahlreichen Volkskrankheiten vermehrt zum Einsatz kommen wird."

MNRS: Was unterscheidet medizinisches Cannabis von solchem, das aus Spaß konsumiert wird?

Wichmann: "Bei der Herstellung von medizinischem Cannabis wird darauf geachtet, dass - wie bei anderen Arzneimitteln auch - durch ein strenges, medizinisch-standardisiertes Verfahren stets eine zuverlässige Qualität und Wirkstoffmenge vorgewiesen wird. Von Anbau und Weiterverarbeitung bis zur Abgabe in der Apotheke erfolgen alle Schritte gemäß strikter regulatorischer Vorgaben.

Dadurch sind medizinische Produkte qualitativ hochwertig und sauber, anders als beispielsweise Cannabis auf dem illegalen Markt, das oft verunreinigt oder mit gesundheitsschädlichen Substanzen weiterverarbeitet ist und bei dem Käufer:innen gar nicht so recht wissen, was sie erwerben.

Maßgeblich für die medizinischen Effekte von Cannabis sind vor allem die beiden Inhaltsstoffe Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD). Während THC für seine schmerzlindernde, entspannende, aber auch stimmungsaufhellende Wirkung bekannt ist, kann CBD u. a. angstlösend und entzündungshemmend wirken. Da unser endogenes Cannabinoid-System von Mensch zu Mensch variiert, muss auch die Therapie entsprechend individuell personalisiert und angepasst werden."

Cannabistherapie: Ablauf, Vorteile, Risiken & Nebenwirkungen

MNRS: Wer kommt für eine Cannabistherapie infrage und wie läuft diese ab?

Wichmann: "Bereits jetzt geht man davon aus, dass über die Hälfte der Cannabis-Konsument:innen eigentlich aus gesundheitlichen Gründen illegal Cannabis erwirbt. Für all diese in die Kriminalität und zu Substanzen mit hohem gesundheitlichen Risiko gedrängten Menschen bietet sich durch die Reklassifizierung endlich eine realistische, einfache und günstige Alternative: die ärztlich begleitete Therapie.

Auch nach der Entkriminalisierung von Cannabis als Genussmittel ab 1. April bleibt Medizinalhanf verschreibungspflichtig. Grundsätzlich dürfen alle Ärzt:innen Cannabis verschreiben - mit Ausnahme der Tier- sowie Zahnärzt:innen. Der Zugang zur medizinischen Therapie mit Cannabis wird nach der Legalisierung aber deutlich unkomplizierter, da eine Verschreibung auf einem Betäubungsmittelrezept nicht mehr notwendig ist.

Für die Einlösung in der Apotheke reicht künftig ein gewöhnliches Rezept oder auch ein E-Rezept. So ist z. B. über Algea Care eine komplett digitale Betreuung der Cannabistherapie möglich. Nach dem Ausfüllen eines Fragebogens über unsere Website oder die App entscheiden die Kooperations-Ärzt:innen, ob eine Cannabistherapie infrage kommt.

Meist kann bereits dieses Erstgespräch per Video-Sprechstunde stattfinden. Wenn erwünscht, erhalten Patient:innen anschließend ein E-Rezept, das sie online bei einer Apotheke ihrer Wahl einlösen können. Bei Fragen stehen Support-Teams bequem per App zur Verfügung."

MNRS: Was macht Cannabis im medizinischen Bereich so interessant?

Wichmann: "In vielen Kulturen hat medizinisches Cannabis eine jahrhundertealte Tradition, wurde allerdings die letzten Jahrzehnte extrem stigmatisiert. Erst seit einem neuen Gesetz vor sieben Jahren behandeln wieder einzelne Ärzt:innen in Deutschland mit dieser Heilpflanze.

Es sind aber immer noch viel zu wenig, auch weil natürlich kaum ein praktizierender Arzt oder eine praktizierende Ärztin bereits während seines bzw. ihres Studiums über das endogene Cannabinoidsystem in unserem Körper aufgeklärt wurde. Cannabis ist ein prädestiniertes Beispiel dafür, dass natürliche Arzneimittel über eine absolute Daseinsberechtigung in unserer evidenzbasierten Medizin verfügen, auch wenn es nicht den klassischen Weg der Arzneimittelforschung und -patentierung geht.

Besonders interessant ist auch das breite Behandlungsspektrum: Unzählige Erkrankungen und Symptome werden bereits erfolgreich mit Cannabis ärztlich therapiert. Über Algea Care haben Patient:innen sowie Ärzt:innen bis dato positive Erfahrungen bei vielen chronischen Erkrankungen gemacht, insbesondere aber bei Schmerzen, ADHS, Nebenwirkungen einer Chemotherapie, Depressionen, Migräne, aber auch entzündlichen Erkrankungen wie Morbus Crohn oder Endometriose.

Letztlich sollte man einen Therapieversuch mit medizinischem Cannabis in Erwägung ziehen, wenn bisherige Therapien nicht ausreichend geholfen haben oder bisherige Medikamente langfristig zu belastenden Nebenwirkungen geführt haben."

MNRS: Welche Risiken und Nebenwirkungen bestehen bei einer Cannabistherapie?

Wichmann: "Cannabis hat oftmals gerade in der langfristigen Anwendung deutlich weniger Nebenwirkungen als viele herkömmliche Medikamente und bietet so eine effiziente Alternative. Patient:innen berichten nach der Eingewöhnungsphase, dass sie durch medizinisches Cannabis ihren Lebensalltag wieder deutlich besser gestalten können, da sie z. B. nicht mehr an typischen Nebenwirkungen von starken Schmerzmitteln leiden.

In unterschiedlichen Studien, u. a. einer Studie von Wissenschaftler:innen der Universitätsklinik Essen basierend auf Daten von Algea Care, wurde beobachtet, dass keine schweren Nebenwirkungen auftraten, meist kommt es lediglich zu milden Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit, Appetitsteigerung oder Müdigkeit. Tatsächlich ist einer der häufigsten Gründe für einen Therapieversuch mit medizinischem Cannabis vor allem die Reduktion von Nebenwirkungen bisheriger Medikamente bei der Behandlung chronischer Beschwerden.

Übrigens ist im Zuge einer ärztlich überwachten Therapie mit medizinischem Cannabis bislang keine Cannabisabhängigkeit wissenschaftlich beschrieben worden. Viele wissenschaftliche Erkenntnisse stammen aus der Drogen-/Suchtmedizin, also bei Einnahme unregulierter Substanzen mit nicht überwachten Dosierungen und Begleitumständen, nicht aus der kontrollierten medizinischen Anwendung."

Medizinisches Cannabis in Deutschland: Kosten & Privilegien

MNRS: Wie teuer ist das Ganze und wer kommt für die Kosten auf?

Wichmann: "Aufgrund des Versorgungsauftrags ist eine Spezialisierung auf eine bestimmte Therapieform mit Kassensitz nicht möglich. Daher können aktuell nur privatärztliche Behandlungen angeboten werden.

Die Kosten für die privatärztliche Behandlung bei den Kooperations-Ärzt:innen fallen immer nur pro Termin an. Meist sind die Kosten allerdings von privaten Krankenkassen erstattungsfähig.

Die Kosten für die Behandlung sind zunehmend gesunken. Ein Erstgespräch liegt nun bei ca. 50 Euro statt zuvor 125 Euro. Die Abrechnung erfolgt nach GOÄ-Standards. Für Folgesprechstunden fallen nun Kosten in Höhe von ca. 70 Euro an, im Vergleich zu vorher 116 Euro.

Diese Termine können bequem per Videosprechstunde online stattfinden. Bei langfristiger Behandlung ist auch die reine Ausstellung eines Folgerezepts ohne Folgesprechstunde möglich, hierfür fallen im Rahmen der ärztlichen Betreuung nur noch ca. 30 Euro an.

Was viele zudem nicht wissen: Medizinisches Cannabis aus der Apotheke ist erschwinglich, spezialisierte Apotheken-Plattformen wie Grüne Brise listen bereits Preise ab fünf Euro pro Gramm."

MNRS: Kann ich als Patient:in mit meinem Cannabis auch ins Ausland reisen?

Wichmann: "Das Reisen mit Cannabis ist neben dem Autofahren ein Privileg von ärztlich betreuten Patient:innen. Wer Cannabis zu Genusszwecken konsumiert, kann damit nicht rechtens über die Grenze fahren.

Innerhalb von Deutschland ist allein aufgrund der Möglichkeit des E-Rezepts die Handhabung für Cannabis-Patient:innen deutlich vereinfacht, dieses ist in der App abrufbar und kann vorgezeigt werden. Bisher musste stets der entsprechende Durchschlag des BtM-Rezepts im Original mitgeführt werden.

In Ländern, in denen Cannabis weiterhin als Betäubungsmittel klassifiziert ist, wird aktuell weiterhin das entsprechende beglaubigte Formular für das Mitführen von Betäubungsmitteln notwendig sein, das bei uns bequem per App angefordert werden kann.

Langfristig ist zu erwarten, dass weitere Länder innerhalb der EU der Gesetzesänderung Deutschlands folgen und so das Reisen mit Cannabis als Medikament weiter vereinfacht wird."

MNRS: Darf ich während der Arbeit oder beim Autofahren konsumieren?

Wichmann: "Für Cannabis-Patient:innen gelten hier ganz andere Regeln als für Freizeitkonsument:innen. Seit 2017 die medizinische Cannabistherapie erlaubt wurde, dürfen auch Cannabis-Patient:innen üblicherweise ganz normal im Straßenverkehr teilnehmen. Hier gilt anders als für Freizeitkonsument:innen dementsprechend auch kein Grenzwert bezüglich der THC-Konzentration im Blut.

Hier wird aktuell ja über einen neuen Grenzwert diskutiert - bis dieser festgelegt wird, gilt beim Autofahren allerdings eine Null-Toleranzgrenze. Einige Bundesländer haben sogar angekündigt, vermehrt auf Freizeit-Cannabis zu kontrollieren.

Rechtlich bleibt medizinisches Cannabis ein verschriebenes Medikament. Außer wenn mit Einschränkungen bei bestimmten beruflichen Tätigkeiten (z. B. Bedienung von Maschinen) zu rechnen ist, muss der Sachverhalt zwischen Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen besprochen werden. Aufgrund der Reklassifizierung ist mit einer zunehmenden Verbreitung und Akzeptanz aufgrund steigender Patient:innenzahlen in Deutschland zu rechnen.

Für das legale Rauchen von Cannabis als Genussmittel gelten beim Arbeiten andere Regeln - auf der Arbeit bleibt 'Kiffen' verboten."

Cannabis: Vorurteile, Wahrheiten & Ausblick

MNRS: Welche Vorurteile über Cannabis stimmen und welche nicht?

Wichmann: "Viele glauben, dass man bei medizinischem Cannabis mit höheren Nebenwirkungen rechnen muss oder dauerhaft beeinträchtigt ist. Dabei ist die Einnahme von Medizinal-Cannabis, wie bereits erwähnt, meist mit deutlich weniger Nebenwirkungen verbunden, als es oftmals der Fall bei herkömmlichen Medikamenten ist.

Aus der mehrjährigen Erfahrung kann man sagen: Ärztlich verordnetes Cannabis ist ein sicheres Medikament, was bei vielen verschiedenen Erkrankungen häufig sehr effizient Symptome lindern kann, ohne relevante neue Nebenwirkungen zu verursachen.

Oftmals wird Patient:innen zu Unrecht unterstellt, dass sie durch die Therapie mit medizinischem Cannabis 'high' wären. Üblicherweise wird die Therapie mit einer niedrigen Dosis begonnen, in einigen Fällen kann ein 'benebeltes' Gefühl in der Eingewöhnungsphase vorkommen. Sobald sich der Körper nach wenigen Wochen an die ärztlich verschriebene Dosis gewöhnt hat, können Patient:innen sogar Auto fahren - solang die Therapie ärztlich dokumentiert wurde und sie sich fahrtüchtig fühlen. Patient:innen berichten dann üblicherweise, dass sie keine dieser initialen Nebenwirkungen mehr bemerken, aber die Symptomlinderung konstant bleibt.

Für viele ist die Inhalation eines Medikaments sicher ungewohnt, wobei unserer Erfahrung nach auch Senior:innen damit gut zurechtkommen. Medizinisches Cannabis in Blütenform wird aber nicht geraucht, sondern mittels medizinischem Verdampfer, quasi einer E-Zigarette im Handyformat, schadstofffrei und präzise kontrolliert erhitzt und inhaliert. Es gibt aber auch alternative Einnahmeformen wie ölige Lösungen oder Kapseln.

Was den manchmal befürchteten Suchtfaktor betrifft, hat die internationale Studienlage für die ärztliche Anwendung von Cannabis keine Suchtgefahr belegt. Entscheidend ist hier auch die Einnahme von pharmazeutisch-reinem Cannabis aus der Apotheke sowie die langfristige ärztliche Betreuung. Meist kann mit relativ geringen Cannabis-Dosen schon ein sehr guter Therapieerfolg erzielt werden."

MNRS: Was glauben Sie, wie die Cannabis-Entwicklung in Deutschland weitergeht?

Wichmann: "Ich hoffe, dass durch den weniger bürokratischen Zugang zur Therapie sowie die zunehmende Akzeptanz zukünftig deutlich mehr Patient:innen von medizinischem Cannabis profitieren und die jahrzehntelange Stigmatisierung endlich abnimmt.

Es existieren keine genauen Zahlen, aber aktuell gibt es geschätzt ca. 250.000 Cannabis-Patient:innen in Deutschland, obwohl vom medizinischen Potenzial und der Prävalenz vieler behandelbarer Volkskrankheiten wahrscheinlich Millionen von Menschen eine bessere Lebensqualität erhalten könnten.

Die Erfahrungen aus der ärztlichen Anwendung werden dann hoffentlich zu einem rationaleren und faktenbasierteren Diskurs über medizinisches Cannabis beitragen, als dies aktuell der Fall ist, in dem die Tonlage manchmal eher emotional und doch recht aufgeladen wirkt."

MNRS: Vielen Dank für das Interview!