Heimliche Katastrophen der Geschichte

Kann ein See die Luft der gesamten Erde verschmutzen?

Sie kosteten unzählige Menschenleben, sie stürzten Weltreiche, sie beeinflussen unser Leben bis heute - und doch sind viele Katastrophen der Öffentlichkeit gar nicht bekannt. wdw über einige der unbemerkten Störfälle der Weltgeschichte.

Der Aralsee, oder das, was noch von ihm übrig ist
Die Reste des Aralsees, aus dem Weltraum betrachtet Foto: iStock / Andypott
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Kann ein See die Luft der gesamten Erde verschmutzen?

Kasachstan, 1954: Die Menschen, die noch in den Steppen nördlich des Aralsees leben, sind bitterarm. Seit Jahrzehnten gibt es kaum zu essen - Hunderttausende sind bereits verhungert.

Als die Sowjetregierung schließlich damit beginnt, ein weitreichendes Agrarprogramm umzusetzen, verfolgt sie ehrbare Ziele:

Unfruchtbares Land soll urbar gemacht werden - eine grüne Revolution! Keine Fabriken und keine Straßen, sondern die gezielte Förderung landwirtschaftlicher Strukturen vor Ort - besonders Baumwoll-Plantagen sollen der Region Wohlstand bringen.

Es gibt nur ein Problem: Um die riesigen Anbauflächen in den Steppen bewirtschaften zu können, fehlt es an einer wichtigen Zutat: Wasser! Doch die Regierung hat einen Plan.

Mithilfe von Kanälen und Dämmen wird Wasser aus den beiden Flüssen Amudarja und Syrdarja abgezweigt, die den Aralsee speisen.

Das funktioniert - doch was als nachhaltige Landwirtschaft gedacht ist, stellt sich als eine der schlimmsten menschengemachten Katastrophen der Neuzeit heraus.

Der Eingriff in das natürliche Wasser-Management der Region ist zu massiv. Innerhalb von 50 Jahren schrumpft der Aralsee von 68 000 auf heute nur noch 14 000 Quadratkilometer - die Wassermenge verringert sich im gleichen Zeitraum um 93 Prozent.

Der Aral-See verliert 93 Prozent seiner Wassermenge

Erst sind Fischerflotten unterwegs und kommen Tausende Menschen zum Baden, dann wird der See zur lebensfeindlichen Salzwüste. Der Salzgehalt des Aralsees steigt von neun Gramm auf 150 Gramm je Liter Wasser.

Die meisten Tiere und Pflanzen sterben. Und durch die Versalzung des Sees geht im Umland das verloren, was gerade erst geschaffen wurde: mehr als 550 000 Hektar Nutzfläche. Für die Menschen vor Ort ein Desaster.

Doch die langfristigen Konsequenzen sind sogar noch gefährlicher - und zwar für die gesamte Menschheit: Denn im staubtrockenen Boden der Salzwüste bleiben nach dem Verschwinden des Wassers hochgiftige Substanzen zurück.

Der Grund: Jahrzehntelang setzte man auf den Baumwollplantagen entlang der Flüsse, die in den Aralsee münden, künstliche Düngemittel und Pestizide ein.

Und nach der Verwüstung trägt der Steppenwind jedes Jahr 100 Millionen Tonnen giftigen Staub in die Stratosphäre. Ein Vorgang, der für fünf Prozent der globalen Luftverschmutzung überhaupt verantwortlich ist.

Das Gift des Aralsees ist längst überall auf der Welt angekommen: Selbst im Blut von antarktischen Pinguinen lassen sich Pestizide aus dem Aralsee nachweisen.

Wie gefährlich die toxischen Verbindungen für die Menschen sind, zeigt die Krankenstatistik der Aralregion: Magen- und Darmkrankheiten sowie Erkrankungen der Atemwege haben stark zugenommen - teilweise bis zum 30-Fachen. Gleiches trifft auf Krebs zu.

Die Kindersterblichkeit ist um 400 Prozent höher als in Russland. Jeder Vierte gilt als geistig zurückgeblieben. Viele Experten vergleichen heute das Ausmaß der Aralsee-Katastrophe mit dem Reaktorunfall in Tschernobyl.