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John Paul Stapp: Der lebende Crashtest-Dummy

Für die Verbesserung unserer Sicherheit nahm John Paul Stapp, Colonel der U.S. Air Force, unglaubliche Strapazen auf sich und reizte die Grenzen des menschlichen Körpers aus. Als lebender Crash-Test-Dummy revolutionierte er nicht nur die Unfallforschung, sondern rettete auch Millionen von Menschen das Leben.

John Paul Stapp bei seinem Crashtest-Dummy Selbstversuch
John Paul Stapp bei seinem Crashtest-Dummy Selbstversuch Foto: Getty Images / Keystone
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John Paul Stapp: Der lebende Crashtest-Dummy

Manche Menschen träufeln sich im Namen der Wissenschaft Erbrochenes in Wunden, um zu beweisen, dass Gelbfieber nicht einfach von Mensch zu Mensch übertragen werden kann. Andere lassen sich wiederum bis zur Bewusstlosigkeit mit einem Handtuch würgen, um das Hängen zum Tode Verurteilter am eigenen Leib zu spüren.

Und einer bestieg einen Raketenschlitten und raste mit mehr als 1.000 Kilometern pro Stunde durch die Wüste, bevor er in nur anderthalb Sekunden abgebremst wurde, was ihn kurzzeitig aussehen ließ, als sei er aus Knetmasse. Das war John Stapp.

Genauer gesagt: John Paul Stapp, Colonel der U.S. Air Force und Forscher in Fragen der Sicherheit von Flugzeugen und Autos. Gestorben im Alter von 89 Jahren eines – man glaubt es kaum – natürlichen Todes. Was im Grunde die Bestätigung von Stapps Haupttheorie war: dass der Mensch wesentlich mehr verträgt, als er denkt. Doch der Reihe nach:

Nach einem Studium der Biophysik tritt Stapp 1944 in die Air Force ein, die zur damaligen Zeit quasi jede Wüste Kaliforniens oder New Mexicos in ein riesiges Freiluftlabor verwandelt hat: Forciert durch den Zweiten Weltkrieg, lässt man in Los Alamos Atombomben hochgehen, nicht weit davon startet das V1-Raketenprogramm, und dort, wo Stapp landet, interessiert man sich sehr für die Auswirkungen großer Höhen auf den Organismus.

Ein bisschen was weiß man schon, denn einige Piloten haben sich nach dem Ausfall von Überdruckkammern ohnmächtig in den Sandboden gebohrt, andere haben bewusstlos in den Sitzen hängend landen können. Das Meiste aber, was man über rohe Kräfte in luftigen Höhen weiß, steht in einem deutschen Handbuch, das den Amerikanern im Krieg in die Hände gefallen ist.

John Stapps Motto: Probieren geht über Studieren

Schon auf dieser ersten Karrierestation zeigt sich Stapps Pragmatismus. Er hält sich nicht lange mit Theorien auf, sondern setzt sich selbst in ein Düsenflugzeug und fliegt in einer Höhe von mehr als zwölf Kilometern, um zu beweisen, dass die Zufuhr hochkonzentrierten Sauerstoffs 30 Minuten vor einem Flug die gefährliche Bläschenbildung bei extremem Druck verhindert.

Stapp fliegt auch mit mehr als 900 Kilometern pro Stunde in einer offenen Kabine, um zu testen, unter welchen Bedingungen ein Pilot noch aus dem Cockpit aussteigen kann.

In der Folgezeit untersucht sein Team die Effizienz von Schutzanzügen, Schleudersitzen, Fallschirmgurten und Sauerstoffmasken, wobei Stapp sich immer häufiger fragt, warum die Forschung nur ein paar tausend Air-Force-Piloten zugute kommen soll und nicht dem amerikanischen Volk, dessen Autos alles bieten, nur keine Sicherheitsgurte.

Und auch sonst stellt sich Stapp Fragen, auf die andere gar nicht kommen. Klar bedeutet es den sicheren Tod, wenn man aus 100 Metern Höhe aufs Wasser fällt, aber dann gibt es da diesen Jungen, der von der Golden Gate Bridge gestürzt ist – und überlebt hat.

Von solchen Geschichten kann Stapp nicht genug bekommen. Sie zeigen ihm, dass es nicht unbedingt am menschlichen Körper liegt, wenn es zu tödlichen Unfällen kommt, sondern an fehlenden Sicherheitssystemen.

Nach ein paar ersten Testfahrten mit einem raketenbetriebenen 700-Kilo-Schlitten auf dem sogenannten "Wright Field" der Air Force wechselt Stapp 1953 zur "Holloman Air Force Base", wo ein ganz anderes Kaliber auf ihn wartet.

Ein Monstrum, das aussieht, als hätte man einen elektrischen Stuhl auf das Fahrgestell eines Güterwaggons geschraubt. "Sonic Wind" wird von einem mit zwölf Raketen bestückten Extraschlitten beschleunigt, der sich während der Fahrt abkoppeln lässt, um die Bremsung zu erleichtern.

Auch damit sollen die Sicherheitssysteme in Flugzeugen und Autos erforscht und verbessert werden. Zunächst sind es vor allem Schimpansen, die mit "Sonic Wind" durch die Wüste rasen, doch schon bald setzt sich Stapp selbst in den Schlitten.

John Stapp wird maximal beschleunigt und dann abrupt abgebremst
John Stapp wird maximal beschleunigt und dann abrupt abgebremst Foto: Getty Images / Keystone

John Stapp geht als Crashtest-Dummy an menschliche Grenzen

Es ist ein heißer Morgen im Dezember 1954, als Stapp von den Raketen auf 1.017 Kilometer pro Stunde beschleunigt wird – schneller, als je ein Mensch vor ihm gewesen ist.

Nach einer Sekunde wirken bereits 25 g auf ihn ein – als man ihn rund einen Kilometer später innerhalb von 1,4 Sekunden auf null bremst, ist es die 46,2-fache Erdanziehungskraft. Mehr, als je ein Mensch ausgehalten hat. Aber hat er es überhaupt ausgehalten?

Das fragen sich auch die Sanitäter, die nach dem abrupten Stopp mit Sauerstoffmaske und Defibrillator zur Stelle sind. Doch Stapp winkt unwirsch ab, er sei okay. Was nicht ganz stimmt – denn er ist blind. Der Druck hat ihm die Augäpfel fast aus dem Kopf gepresst (siehe im Video unten).

Es dauert eine ganze Weile, bis sich der blutige Schleier verzogen hat und Stapp, auf einer Trage liegend, allmählich wieder den blauen Himmel über sich sieht. Auf die Frage eines Reporters, wie er sich fühle, antwortet er: "Als wäre ich von einem Güterzug überrollt worden." Aber es dauert nicht lang, bis es Stapp wieder juckt, die Grenzen des Erträglichen neu auszuloten.

Im Frühjahr 1955 kündigt er schließlich an, einen Testlauf mit 1.609 km/h machen zu wollen. Aber da ist er für die Army schon zu wertvoll geworden, als dass man ihn noch einmal den Crashtest-Dummy spielen lassen will.

Das "Time Magazine" hat ihm gerade eine Titelstory gewidmet, im selben Jahr veranstaltet man eine nach ihm benannte Verkehrssicherheitskonferenz, die bis heute jährlich stattfindet: die "Stapp Car Crash Conference".

1966 unterzeichnet der damalige US-Präsident Lyndon B. Johnson ein Gesetz, durch das Sicherheitsgurte in allen Neuwagen Pflicht werden. Stapp, trägt dazu bei, dass nachgebende Armaturenbretter, effektivere Bremssysteme und bessere Windschutzscheiben entwickelt werden.

Er ist sich der Bedeutung seiner Experimente stets bewusst: "Den Menschen gibt es nur in drei Farben und zwei Ausführungen. Ich denke nicht, dass sich das in Zukunft ändern wird, weshalb das, was wir heute entdecken, noch lange Bestand haben wird“, sagt er einmal – und behält recht damit. Mehr noch: Sein Pioniergeist hat bis heute Millionen von Menschenleben gerettet