In Londons Untergrund - Die Stadt, die auf Knochen thront
Mit mehr als acht Millionen Einwohnern ist die britische Hauptstadt eine der größten Metropolen der Welt. Doch das London, wie wir es heute kennen, ist nur der kleine Teil eines großen Ganzen und zeigt nicht seine wahren Ausmaße – tatsächlich thront die Stadt auf einer meterdicken Schicht aus Knochen, Artefakten und Relikten früherer Zeitalter. Jetzt gelang es Forschern, einen neuen Blick unter die Oberfläche zu werfen und die geheimnisvolle Unterwelt Londons zu erkunden …
Sadie Watson stockt der Atem, als sie den Schatz sieht, den die Arbeiter im Boden der zwölf Meter tiefen Baugrube freigelegt haben. Die Archäologin steht inmitten einer 1,2 Hektar großen Baustelle im Herzen des Londoner Bankenviertels und blickt fasziniert auf 2.000 Jahre alte Straßenzüge, Geschäfte und Fachwerkhäuser mit eingezäunten Vorgärten. Für Watson besteht kein Zweifel: Vor ihr liegt die bedeutendste frührömische Stätte, die je in London entdeckt wurde.
Tatsächlich ist sie sogar so gut erhalten, dass man sie bald das "Pompeji des Nordens" taufen wird. Doch noch viel wichtiger ist für die Archäologin die Tatsache, dass dieser Fund nur der Anfang ist. Zum einen, weil er beweist, dass viele weitere Relikte der Vergangenheit unter Londons Straßen verborgen liegen könnten. Und zum anderen, weil das Momentum nie so günstig war wie jetzt, um die geheime Stadt unter der Stadt genauer unter die Lupe zu nehmen …
London: Die Stadt die auf Knochen thront
Mit 8,5 Millionen Einwohnern, fast 20 Millionen Touristen pro Jahr und einer Vielzahl von Pendlern ist London eine der quirligsten Metropolen der Welt. Auf den überfüllten Straßen drängen sich permanent Busse, Taxis und Lieferwagen – sodass es lange völlig undenkbar schien, dass man ganze Straßenzüge absperrt, nur damit Archäologen unter dem Asphalt nach Artefakten graben können. Doch genau das geschieht gerade in London – ein beispielloser Bauboom, der das komplette historische Zentrum erfasst hat, macht es möglich.
Die Forschung hat diese historische Chance erkannt und genutzt: Wissend, dass sich ihr Zeitfenster nur allzu schnell wieder schließen wird, arbeiten seit Monaten mehr als 100 Archäologen 16 Stunden am Tag, an sechs Tagen in der Woche, um die Schätze zu sichern, bevor die Bauarbeiten beginnen. Und ihre bisherige Ausbeute kann sich sehen lassen: Zehntausende Funde aus verschiedensten Epochen wurden zutage gefördert – darunter ein 3 mal 2 Meter großes Wandgemälde aus dem Jahr 60 n. Chr. Das Fresko schmückte einst das größte Ensemble, das die Römer je nördlich der Alpen gebaut hatten – es nahm mehr Platz ein als die legendäre St.-Pauls-Kathedrale.
Aber auch auf banale Dinge wie Einkaufslisten oder Kaufverträge stießen die Forscher. "Wir können das Alltagsleben im antiken London jetzt so gut verstehen wie nie zuvor", sagt Sadie Watson. Der größte Segen für die Forscher ist das 21 Milliarden Euro teure U-Bahn-Projekt "Crossrail": 42 Kilometer der Ost-West-Verbindung verlaufen unterirdisch – in den ältesten Arealen der Stadt. Das eröffnet den Archäologen die Chance, an mehr als 40 Stellen unter die Oberfläche zu blicken.
Eine Großstadt, erbaut auch Leichen
Die bisher spektakulärste Ausgrabung des Crossrail-Projekts findet auf dem 450 Jahre alten Bedlam-Friedhof statt. 3.500 Skelette werden dort unweit der heutigen Liverpool Street Station freigelegt. Eine Exhumierung, von der die Forscher sich bahnbrechende Erkenntnisse erhoffen – denn Bedlam ist gleich in mehrfacher Hinsicht ein faszinierender Ort. Nicht nur, dass er selbst erst 2013 im Zuge der Baumaßnahmen entdeckt wurde. Als erster städtischer Friedhof war Bedlam überdies auch keiner Kirche zugehörig, sodass der Platz, der damals noch außerhalb der Stadtgrenze Londons lag und auf Karten als "Niemandsland" markiert war, schnell zu einer Sammelstätte für Radikale, Nonkonformisten, Migranten und Outlaws wurde.
"Das ganze Spektrum der Gesellschaft ist auf Bedlam vertreten, von Verrückten über Kriminelle bis zur Gattin eines ehemaligen Lord Mayor of London", sagt Jay Carver, Chefarchäologe von Crossrail. Vor allem aber wurde er in einer Zeit genutzt, in die prägende historische Ereignisse wie der Große Brand von London und mehrere Pestwellen fielen.
Da überrascht es nicht, dass Bedlam bereits nach 200 Jahren völlig überfüllt war. Die meisten der 30.000 Toten dürften auf das Konto der Pest gehen, die nach ihrem erneuten Ausbruch 1665 mehr als ein Fünftel der 450.000 Stadtbewohner dahinraffte. Das Seltsame: "Bis 1665 suchte die Krankheit die Stadt in regelmäßigen Abständen heim, doch danach nie mehr", sagt Carver. Einige Gebeine werden daher gerade wissenschaftlich untersucht, um mehr über die Evolution der Seuche zu erfahren und das Rätsel zu lösen.
Unstrittig ist dagegen, dass die meisten Einwohner des mittelalterlichen Londons ein erbärmliches Leben führen mussten: Viele Skelette zeigen Zeichen von Mangelernährung und Hunger, 16 Prozent litten an der Knochenkrankheit Rachitis. Zudem entdeckten die Forscher an den Skeletten jener Menschen, die den ersten Pestausbruch überlebt hatten, schwere Verletzungen im Bereich des Oberkörpers. Sie deuten auf menschliche Gewalteinwirkung hin und sind für Carver ein klarer Beleg dafür, dass es infolge der Pest zu sozialen Unruhen kam.
Für die Landbevölkerung, die auf der Suche nach einem besseren Leben war, schien die pestgeplagte Hauptstadt dennoch nichts von ihrem Reiz eingebüßt zu haben – 40 Prozent der untersuchten Toten waren in so weit entfernten Gegenden wie Schottland aufgewachsen. "London hatte eben schon damals eine große Anziehungskraft", sagt Carver lächelnd. Für ihn sind die morbiden Funde in der Tiefe ein wichtiges Kapitel der Stadtgeschichte. Man könnte gar meinen, sie prägen die Metropole bis heute, wenn man die Worte des irischen Dichters William Butler Yeats liest: "O düsteres London. Manchmal scheint es mir, als seien die Seelen der Toten dazu verdammt, auf ewig durch deine Straßen zu wandern …"