Eroberer oder Befreier: Die Napoleon-Propaganda
Rufmord, Propaganda, Verleumdung: Immer wenn Mächtige ihre Ziele erreichen wollen, ist die Wahrheit das erste Opfer. Oft werden diese Lügenschnell enttarnt. Doch es gibt auch welche, die bleiben Jahrhunderte bestehen – und verändern den Lauf der Welt, so auch die Napoleon-Propaganda.
Die Napoleon-Propaganda
Noch während ihre Heere mit großer Mühe Napoleons Grande Armée bei Waterloo schlagen, tagen die Delegationen von rund 200 Staaten, Städten und Fürstentümern in Österreich auf dem Wiener Kongress. Die Stimmung ist gut. Teilnehmer berichten von ausschweifenden Festen. Über allem schwebt das hehre Ziel, Europa vom "Joch des Ungeheuers Napoleon" zu befreien, das den Kontinent nach Ansicht der anwesenden Monarchen und Adeligen über zwei Jahrzehnte mit Krieg, Folter und Unterdrückung überzogen hat.
Am 9. Juni 1815 verkünden die Delegierten eine 121 Artikel umfassende Abschlussakte, die das von Napoleon angerichtete Chaos rückgängig macht, die alte Ordnung wieder herstellt – und Napoleon bis heute diskreditiert. Denn eine Frage sollte niemand zu stellen wagen:
War Napoleon ein Eroberer oder ein Befreier?
In Wahrheit war er wohl beides. Viele Experten sehen heute Napoleons politische Vision eines friedlichen, vereinten Europas, das dem Geist der Französischen Revolution verpflichtet ist, seinen eigenen machtpolitischen Ambitionen übergeordnet. Ja, Napoleon erschafft einen Personenkult um sich. Er ist aber auch Soldat und weiß, dass man die seit Jahrhunderten an der Macht hängenden Monarchen in Europa nicht mit Argumenten von dem 1789 proklamierten Prinzip der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit überzeugen kann.
Die Verdienste Napoleons
Napoleons Eroberungen sind also Mittel zum Zweck – sie sind nötig, um die Zivilgesellschaft umzubauen. Zu seinen größten Leistungen zählen die Zurückdrängung der Kirche aus dem Alltag, die Abschaffung von Adelsprivilegien und der Code Civil, eine Grundrechtesammlung, die z. B. die Gleichheit aller (Männer) vor dem Gesetz festlegt.
Napoleon beschließt das Gesetzeswerk auch nicht im Alleingang, sondern lässt es von einer Expertenkommission in 102 Sitzungen ausarbeiten. Der Wiener Kongress nimmt nicht nur die meisten Reformen wieder zurück – durch die Diffamierung Napoleons sollen die dahinterstehenden freiheitlichen und demokratischen Ideen für immer unterdrückt werden. Vor diesen freiheitlichen Gedanken fürchten sich die Monarchen Europas mehr als vor Napoleons Armeen. Zu Recht, wie sich Jahrzehnte später herausstellt. Denn die Ideen, die im Code Civil stehen, überdauern die Könige und Kaiser – und finden sich heute in unserem Bürgerlichen Gesetzbuch.