Im Bann der Ozeane: André Wiersig durchschwimmt die "Ocean's Seven"
André Wiersig ist der erste Deutsche, der die sieben berühmtesten Meerengen der Welt durchschwommen hat - die sogenannten "Ocean's Seven". Wie aber krault man Tag und Nacht Dutzende Kilometer durch meterhohe Wellen? Was passiert dabei mit dem Körper? Und welchen Kreaturen begegnet man auf hoher See?
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Es ist exakt 0:02 Uhr am 21. August 2021, als André Wiersig etwas tut, das für 99 Prozent aller Menschen den sicheren Tod bedeuten würde. Er steigt am Strand von St. Peter-Ording ins kalte Wasser der Nordsee und schwimmt los.
Sein Ziel: die 50 Kilometer entfernte Insel Helgoland. Dazwischen: meterhohe Wellen, unsichtbare Strömungen und giftige Feuerquallen. Wenn jedoch einer diese Tortur überstehen kann, dann ist es Wiersig. Schließlich hat kaum ein Mensch auf der Welt so viel Zeit schwimmend in den Ozeanen verbracht wie er.
Rückblick: Vor acht Jahren fasst Wiersig einen Entschluss, der sein Leben verändert. Er will den Ärmelkanal durchschwimmen, 34 Kilometer durch die wilde See des Nordatlantiks. "Ich wollte weg von der Strandkulisse, das Meer möglichst ungefiltert erleben", sagt der Extremschwimmer.
Um seinen Körper an die Wassertemperatur (14 Grad) zu gewöhnen, kauft er sich eine Eistonne. Er läuft nachts in kompletter Dunkelheit durch den Wald, um seinen Orientierungssinn zu schärfen, und er zieht stundenlang seine Bahnen im Hallenbad. Tag für Tag, Woche für Woche.
Am 2. September 2014 fühlt Wiersig sich bereit und steigt um 4:58 Uhr, nur mit Badehose und Schwimmbrille bekleidet, in das graubraune Wasser des Ärmelkanals. Begleitet wird er von einem Boot, dessen Crew ihm per Kescher hochkalorische Nahrung und Trinkwasser reicht.
"Beim Ozeanschwimmen verbrenne ich etwa 1.300 Kilokalorien pro Stunde, ich muss also alle halbe Stunde möglichst viel Energie in möglichst kurzer Zeit aufnehmen. Denn wenn man zu lange Pause macht im Wasser, kühlt der Körper aus. Die Muskulatur wird steif, der Kaumuskel lässt sich nicht mehr bewegen", erklärt Wiersig.
Nach neun Stunden und knapp 44 Minuten betritt er das französische Festland. 45 Kilometer ist er nonstop geschwommen. Die Strömung hatte ihn von der Idealroute (33 Kilometer) abgetrieben. "Allein der Ozean entscheidet, wie schnell man ist", sagt der dreifache Familienvater.
Wenige Wochen später liest er einen Artikel über die "Ocean's Seven" - die sieben mystischen Meerengen des Planeten. Die Regeln sind fast 150 Jahre alt und haben sich seitdem nicht verändert: keine Hilfsmittel (dazu zählen auch Neoprenanzüge), kein physischer Kontakt zum Begleitboot. Eine dieser sieben Etappen ist der Ärmelkanal. In diesem Moment wird dem Paderborner Hobbyschwimmer klar, was seine nächsten sechs Ziele sind.
Wiersig hört lediglich das Krachen der Brandung, als er am 15. Oktober 2015 am Strand der hawaiianischen Insel Moloka'i noch vor Sonnenaufgang in den Pazifik steigt. Ziel ist die 42 Kilometer entfernte Insel O'ahu. Es ist die längste aller "Ocean's Seven"-Etappen - und die gefährlichste, zumindest was die Lebewesen angeht, die hier in diesen Gewässern jagen.
Tatsächlich bekommt der Extremschwimmer auf hoher See Besuch von einem Hai. "Er umkreiste mich, kam mir so nahe, dass ich kurz davor war, den Arm auszustrecken, um den Abstand zu wahren", erinnert sich Wiersig. Doch der Alpha-Prädator zieht wieder ab - und dem damals 43-Jährigen wird einmal mehr bewusst: "Im Ozean bin ich nur Gast. Hier habe ich keine Kontrolle, hier herrschen andere Machtverhältnisse."
Nach zehn Stunden im offenen Meer bekommt Wiersig eine Ansage von seiner Crew im Begleitboot: "Du musst schneller schwimmen." Nicht für irgendeinen Rekord, sondern um zu überleben. Tatsächlich steigt die Gefahr der Auskühlung selbst bei trainierten Athleten mit jeder Minute.
"Es ist in etwa vergleichbar mit der Todeszone des Mount Everest. Auch hier darf man sich nicht zu lange aufhalten, der Körper ist dafür schlichtweg nicht geschaffen", erklärt Wiersig. Schlag für Schlag krault er nun weiter - und erreicht nach 18 Stunden und 26 Minuten den Strand von O'ahu. Die zweite Etappe der "Ocean's Seven" ist gemeistert. Bleiben fünf!
Im North Channel, der Meeresstraße zwischen Nordirland und Schottland, ist es vor allem die Kälte, die Wiersig fast das Leben kostet. "Längst hatte ich kein Gefühl mehr in den Händen und Füßen, später wurde mir klar, dass die Hypothermie eingesetzt hatte und meinen Bewusstseinszustand veränderte." Und doch schwimmt er weiter und erreicht nach zwölf Stunden und 17 Minuten das Ziel.
In den folgenden Jahren pflügt er zwischen Weißen Haien durch den Catalina Channel nach Los Angeles, durch die von heftigen Meeresströmungen dominierte Tsugaru Strait in Japan, durch die wellenumtoste Cook Strait zwischen der Nord- und der Südinsel Neuseelands und am 9. Juni 2019 durch die Straße von Gibraltar, von Spanien nach Marokko: "Am Strand angekommen, kamen mir die Tränen. Ich konnte kaum glauben, dass die Mission vollendet war." Bis heute haben nur 21 Menschen auf der Welt die "Ocean's Seven" gemeistert.
Wassermann
André Wiersig (50) fühlt sich seit seiner Kindheit vom Meer angezogen. Der dreifache Familienvater lebt in Paderborn und ist einer von nur 21 Menschen weltweit, die die "Ocean's Seven" bezwingen konnten.
Wiersig hat auf dieser Reise viel gelernt. Über seinen Körper, dass man dessen Grenzen immer wieder verschieben kann. Über die Ozeane, von denen jeder einzigartig wie ein Fingerabdruck ist und sogar anders schmeckt. Und über die Verletzlichkeit der Ökosysteme.
"Es ist das eine, wenn man Greta Thunberg über die Verschmutzung der Meere zuhört oder eine neue Studie zum Sterben der Artenvielfalt in den Ozeanen liest, was ganz anderes ist es, wenn man mitten in der Nacht gegen Europaletten oder in Plastiktüten schwimmt und man statt Fischen nur noch Müll um seinen Körper sieht."
Heute ist Wiersig Botschafter der Deutschen Meeresstiftung und setzt sich für den Schutz der Ozeane ein: "Über viele Jahrzehnte haben wir gegenüber unseren Ozeanen ohne Verantwortung und Respekt gehandelt. Mit meinen Erfahrungsberichten und Aktionen setze ich mich dafür ein, dass dieser Raubbau ein Ende findet."
André Wiersig weiß, worauf er sich einlässt, als er am 21. August nach Helgoland schwimmt - und hat doch keine Ahnung, ob oder wann er dort ankommen wird: "Die Nordsee wird auch Mordsee genannt, sie gilt als eines der gefährlichsten Gewässer der Welt."
Genau das lässt ihn das Meer auch spüren. 7.200 Berechnungen über die voraussichtlichen Strömungen in der Nacht haben die Wissenschaftler des Bundesamts für Seeschifffahrt und Hydrografie (BSH) für ihn erstellt. Keine einzige trifft zu. Am Morgen schwimmt Wiersig, begleitet von nur zwei Kajaks und einem kleinen Boot, auf der Stelle. Viereinhalb Stunden, ohne wirklich voranzukommen: "Das muss man erst einmal wegstecken."
Doch der Langstreckenschwimmer gibt nicht auf - und erreicht noch vor Sonnenuntergang die Helgoländer Düne - nach 18 Stunden und 14 Minuten. Sein Körper? Wie immer gezeichnet von den Strapazen. "Ich wurde buchstäblich eins mit dem Meer. Ich hatte elf Kilo zugenommen, das Salzwasser durchdrang jede Pore und hat mich regelrecht aufgeschwemmt. Aber das war es wert."
Und so wird Wiersig auch weiterhin durch die Weltmeere schwimmen. Nicht für Rekorde - sondern für sich und für den Schutz der Ozeane.
Autor: H. Wellmann